Die Tür bleibt zu!

Buonconvento - San Quirico d'Orcia (21 km)

   Im Moment kann ich froh sein, dass die Etappen, die ich mir zurechtgelegt habe, nicht so lang sind, und dass ich mittlerweile dazu übergegangen bin, recht früh wegen der aufkommenden Hitze loszulaufen. In den letzten Tagen kam es immer wieder nachmittags zu Gewittern mit kräftigen Schauern, die mir aber nichts anhaben konnten, weil ich schon ein Dach über dem Kopf hatte. Marion und Piet aus Holland schafften es gestern auch so gerade noch, bevor es draußen wieder krachte. Beide kommen aus Utrecht und sind in Pavia gestartet. Piet, ein großer Mensch mit langem, gewelltem Haar, ist evangelischer Pastor und Marion eines seiner "Gemeindekinder". Zufällig haben sie sich unabhängig voneinander zu dieser Pilgerreise entschlossen, laufen sich unterwegs immer mal über den Weg und trennen sich wieder. Marion wird in Rom von ihrem Mann erwartet, um anschließend dort noch einen kleinen gemeinsamen Städteurlaub zu verbringen, auf Piet warten schon jetzt wieder seine anderen "Gemeindekinder".

   Für uns drei kocht Don Domenico zusammen mit seiner Haushälterin Laura ein leckeres Abendessen: Steak und Spaghetti mit ganz vìel Knoblauch. Eigentlich müsste ich sagen, ganz viel Knoblauch mit etwas Spaghetti. Als Marion, Piet und ich nämlich ins Esszimmer kommen, falle ich von dem Geruch bald um. Normalerweise habe ich mit Knoblauch ein Problem. Nicht, dass ich ihn nicht essen kann, aber ich will anschließend nicht immer so stinken, ohne dass ich es merke. Außerdem bekomme ich von knoblauchreicher Nahrung immer einen fürchterlichen Durst. Ich muss aber sagen, es schmeckt vorzüglich.

   Um das heutige Frühstück muss ich mich aber wieder selbst kümmern. Während meiner letzten Pilgertage gehe ich immer mehr dazu über, dafür vor dem eigentlichen Abmarsch die nächstgelegene Bar aufzusuchen. Viel Lebensmittel mitzuschleppen, ist fast nicht billiger, als in einer Bar einen Kaffee und zwei Teilchen zu essen und bei den letzten heißen Tagen wurden die Margarine flüssig, das Brot hart und trocken und Wurst und Käse recht unansehnlich. Ganz abgesehen davon gefällt mir die frühmorgendliche Atmosphäre in den Bars, wenn sich dort die ersten Aktiven des Tages treffen: Leute, die auf dem Weg zur Arbeit sind, Pilger und Rentner.

   Für die erste halbe Stunde verordne ich mir nach einem Blick auf die Karte wieder Straßenkilometer. Warum soll ich eine Höhe raufrennen, von der ich kurz darauf wieder runter muss, nur um nach einer Stunde auf eine Straße zu treffen, an der ich auch in der Hälfte der Zeit sein kann. Kurz darauf gehe ich auch von dieser Straße ab - und mein "Erlebnis Toskana" geht weiter. Heute sind es ganz eindeutig die Weinberge, die das Bild bestimmen. Große Weingüter liegen mittendrin, locken mit Weinproben und Direktverkauf. Auf dem breiten Schotterweg, der mich für etwa zwei Stunden durch die Weinberge leitet, habe ich für zehn Minuten mal das Gefühl, als wäre ich auf einer Hauptverkehrsstraße. Ein Auto nach dem anderen fährt an mir vorbei und ich frage mich, wo die alle hinwollen. Doch bald treffe ich die Autos wieder. Sie parken neben den Weinlagen oder den einzelnen Weingütern. Ihre Fahrer haben vor ein paar Minuten dort ihre Dienste angetreten.

   Der Weg ist heute zwar de facto anstrengender als gestern, weil es öfter und steiler hügelauf und hügelab geht, aber ich registriere das nicht so. Wieder nimmt mich diese Landschaft so gefangen, dass ich mich immer wieder dabei ertappe, dass ich gar nicht mehr gehe. Dann stehe ich einfach nur da, habe wahrscheinlich den Mund auf und staune nur. Ein Motiv reiht sich an das andere und dennoch kann kein Foto den Eindruck wiedergeben, den das Auge wahrnimmt. Was das Weitwinkelobjektiv unseres Auges für uns abbildet, schafft keine Fotokamera. Und um den tiefen Eindruck, den in einem Moment der Ausschnitt einer Landschaft in uns hinterlässt, nachhaltig abzuspeichern, braucht es auch die Verbindung mit weiteren Sinneswahrnehmungen: den Geruch der Blumen und Büsche, das Vogelgezwitscher, das Gefühl, wenn man den wilden Hafer am Wegesrand durch die Finger gleiten lässt, die Wärme der Sonne auf der Haut oder den Wind.

   Ich muss mich fast zwingen, nach mehr als dreistündigem Gehen in Torrinieri eine kleine Pause zu machen. Bei den Temperaturen und meinem zügigen Gehtempo (wenn ich dann mal gehe) kochen fast irgendwann mal meine Füße in den Schuhen und es muss Luft dran, sonst erwischt mich an den letzten Tagen doch noch eine Blase. Ein Sandwich und ein Kaffee bei der kleinen Bar mit Straßenterrasse direkt bei der Kirche bringen mir das in den Magen, was ich für den zweiten Teil der Tagesstrecke brauche und meine Füße bekommen ihre Luft zum Atmen.

   Kurz hinter Torrinieri wird es für den Pilger exklusiv. Die alte Straße hinauf nach San Quirico d'Orcia ist für den Autoverkehr total gesperrt. Da ich nicht annehme, dass sich bei einer Baustelle für uns Fußläufige irgendwelche Probleme ergeben, spaziere ich guter Dinge an der Sperre vorbei und ziehe die Steigung der Kategorie 1 konstant auf dem Mittelstreifen hoch. Kein Auto, kein Motorrad, noch nicht einmal ein Fahrrad stören meinen Frieden und immer weiter komme ich San Quirico d'Orcia näher, das oben auf einer Passhöhe liegt. Die Baustelle, auf die ich nach etwa einer Stunde treffe, ist noch gar keine Baustelle. Die Straße ist hier nur auf etwa 20 m gebrochen und aufgerissen und ein Teil hat sich einen halben Meter tief abgesenkt. Dafür eine Straße über mehr als acht Kilometer sperren zu müssen, ist schon blöd. Da aber keine andere Straße mal irgendwo abzweigt, eine kurze Umleitungsstrecke also nicht möglich ist, gibt es wohl keine Alternative. Aber den Pilger freut's!

   Ich freue mich! Wieder ist es früh, als ich bei meinem Tagesziel ankomme, 12 Uhr. Ich habe inzwischen diese lange Zeit, die mir nachmittags zur Erholung und Muße bleibt, sehr schätzen gelernt. Ich gehe ja meine Kilometer, die ich gehen muss, nur ist eben meine Wanderzeit mehr in den frühen Morgen verschoben. Hinzu kommt ja jetzt neuerdings, dass ich mir zusätzlich auch noch zwei Stunden Fußball-Fernsehzeit gönne.

   Ich klingel bei der Herbergstür direkt hinter der schmucken kleinen Kirche und unmittelbar öffnet sich ein Fenster im ersten Stock und das Gesicht einer älteren Frau erscheint. Mit hochgezogenen Augenbrauen ruft sie ein zögerliches "Buon giorno" zu mir herunter, und als ich ihr in Pseudo-Italienisch mein Sprüchlein aufsage (deutscher Pilger, kann kein Wort Italienisch, bin aber angemeldet), schüttelt sie nur den Kopf. Meine Italienischkenntnisse sind mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ich raushöre, die Herberge sei geschlossen, da noch geputzt würde und ich solle doch um 14.30 Uhr wiederkommen, na gut, vielleicht auch um 14 Uhr. Während ich mir San Quirico ansähe, könne ich meinen Pilgerwagen in der Kirche abstellen. Na bravo! So habe ich mir das vorgestellt. Das Fenster schließt sich und ich verdrücke mich leicht angefressen. Ich parke meinen Wheelie tatsächlich in der Kirche neben einem uralten Beichtstuhl und beginne, durch den Ort zu schlurfen.

   Dieser stellt sich dann glücklicherweise wieder als ein toskanisches Schmuckstück heraus. Wie schon in Buonconvento, scheint auch hier die Zeit stehengeblieben zu sein. Die Kirchen, die Reste der Stadtmauer, einige Palazzos, viele Gassen und Winkel atmen förmlich Geschichte. Mich würde es nicht wundern, wenn Kaiser Friedrich Barbarossa mir durch eine Gasse entgegengeritten käme, wie er es hier - historisch belegt - tatsächlich schon getan hat. In einem kleinen Park lege ich mich auf die Wiese, döse etwas vor mich hin umd schlafe wohl nur deshalb nicht ein, weil das fröhliche Geschrei von Kindern, die auf einem benachbarten Spielplatz herumtoben, mich daran hindert. Die letzte halbe Stunde Wartezeit verbringe ich vor einer Bar auf dem kleinen Hauptplatz des Ortes bei zwei Tassen Kaffee und einem Pfund Stracciatella-Eis und weiß von da an auch, dass ich heute Abend mir dort das nächste WM-Spiel ansehen werde, Italien : Costa Rica. Dabei geht es mir weniger um das Spiel an sich, sondern eher um das schöne Schauspiel, italienische Fans bei solch einem Spiel zu erleben.

   Nur die erste Stunde bin ich in der Herberge alleine, am frühen Abend ist sie rappelvoll. Pastor Piet aus Holland ist auch da.

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Sebastian (Samstag, 21 Juni 2014 18:03)

    Oh oh, eine Knoblauchbombe auf Pilgerreise, wenn das mal gut geht...

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 26 Juni 2014 17:31)

    Bin echt gespannt auf die Fotos. Und die Knoblauchbombe in Kombination mit dem italienischen Ausscheiden aus der WM...? Bitter für die Italiener... ;)


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