Mittelmeer erreicht!

Sarzana - Mare di Massa (20 km)

   Ich öffne zaghaft meine Augen, ziehe mir die Stöpsel aus den Ohren und schaue von meiner Matratze aus in die Runde. Alle sind weg! Maria aus Südtirol, Roberto aus Parma und Mart und Anni aus Frankreich ebenso. Da haben sie sich aber leise verdrückt. Jetzt würde ich doch gerne wissen, wie spät es ist, aber ich habe keine Möglichkeit nachzusehen. Meine Armbanduhr, die alle Wochen an meinem Bauchgurt hing, habe ich wohl gestern bei meinem Kampf den Berg hoch irgendwo verloren (nicht schlimm, war ein Tankstellenmodell) und Handy und Tablet sind mangels geeigneter Steckdose leergelutscht. Ich nehme es gelassen, denn heute wird es ein einfacher, kurzer Tag. Selbst wenn es schon Mittagszeit ist, komme ich immer noch bequem in Mare di Massa an. Die Sonne treibt mich nicht, denn bei einem Blick aus dem Fenster sehe ich, dass sie noch nicht stattfindet. Dicke Wolken hängen am Himmel, es ist grau.

   Trotzdem mache ich mich auf die Suche nach einer Steckdose und werde tatsächlich im großen Aufenthaltsraum, wo Mart und Anni ihre Matratzen liegen hatten, hinter den Säcken mit Schokoladeneiern fündig. Die Akkus müssen jetzt wenigstens so lange laden, bis ich annehme, dass sie bis Mare di Massa reichen, d.h. ich kann in aller Ruhe "frühstücken" (die Anführungszeichen stehen da, weil ich keinen Kaffee dabei habe) und meine Sachen zusammenpacken. Als mich dann doch die Hummeln im Hintern zu sehr kitzeln, ziehe ich die Stecker und beschließe, dass die Akkus jetzt genug Saft haben müssten. Und was sagt die Handyzeit? 6.48 Uhr! Ich glaub' es nicht! Wann sind die anderen denn los? Die müssen ja bald noch im Dunkeln aufgestanden sein. Dabei wollen sie alle doch auch nur bis Mare di Massa. Ich verstehe manchmal die Hast der Leute nicht. Eigentlich könnte ich mich jetzt ja noch ein Stündchen hinlegen... aber Quatsch... nun will ich auch los.

   Draußen sieht es so aus, als wolle es jeden Moment anfangen zu regnen. Das muss eigentlich gerade heute, wo ich doch das Meer erreiche, nicht unbedingt sein. Also, lieber Petrus, gib dir etwas Mühe. Bisher hast du doch auch alles prima geregelt.

   Der Entschluss fällt ganz spontan. Zur Wahl steht wieder mal der markierte Weg im weiten Bogen und im Zickzack rauf und runter, oder strack geradeaus der Straße nach. Ich entscheide mich natürlich wieder für die zweite Möglichkeit. Der Verkehr ist nahezu irrwitzig, praktisch Stoßstange an Stoßstange quälen sich die Autos nach Sarzana hinein. Es ist Berufsverkehr. Sie quälen sich aber auch aus Sarzana hinaus. Nicht weit entfernt liegt die nächste recht große Stadt, Carrara. Mich stört solch ein Verkehr schon lange nicht mehr. Es gibt eben nicht nur die ruhige Idylle, aber wer sie doch immer wieder finden will, muss auch mal durch Lärm und Gestank. Das ist eben die Realität, in der wir leben. Ich weiß, mit jedem Schritt komme ich dem Meer heute näher, und das treibt mich eigentlich gut gelaunt voran.

   Nach etwa einem Drittel des heutigen Tagespensums treffe ich an der Straße wieder auf die Markierung. Die Via Francigena kreuzt und nimmt mich jetzt mit in ruhigere Gefilde. Eine Viertelstunde später sehe ich einen Pilger vor mir herhumpeln, mit Hund. Roberto habe ich damit schon mal "eingesammelt". Er macht keinen guten Eindruck, seine daumendicke Blase quält ihn deutlich. Sein Hund läuft immer 20 m vor ihm her, dreht sich immer mal wieder zu ihm um, als wolle er sagen: " Wat is? Keine Power mehr? Erst scheuchst du mich drei Tage lang und jetzt baust du ab?" Roberto hat Maria seit dem Aufstehen auch nicht mehr gesehen. Wann ist diese Frau losmarschiert? Ich bin ja mal gespannt, ob sie in Avenza, einem Vorort von Carrara, wirklich auf mich wartet. So hatten wir es gestern Abend jedenfalls vereinbart. Ihr Wanderführer beschreibt nämlich nicht den Weg ans Meer nach Mare di Massa, sondern bleibt weit im Landesinneren. In Avenza trennen sich beide Möglichkeiten und sie möchte sich dann mir anschließen, um sicher anzukommen. Mal sehen, ob das klappt.

   Wenige Augenblicke später bin ich an einem Flecken, der schon bedeutendere Zeiten erlebt hat. Was heute durch einen hohen Zaun abgesichert ist, sind die archäologischen Überreste des uralten Siedlungsgebietes Luni. Die Bezeichnung für die Landschaft, durch die ich seit drei Tagen unterwegs bin, Lunigiana, leitet sich von Luni ab. Die Römer gründeten die Stadt im 2. Jahrhundert v.Chr. Nicht weit von hier befindet sich die heutige Stadt Carrara (keltisches Wort für Steinbruch) mit ihren weltberühmten Marmor-Steinbrüchen. Diese gab es schon zu Zeiten der Römer. Bis ins Jahr 608 n.Chr. lässt sich die Verarbeitung des Marmors aus Carrara in Rom nachweisen. Die klassische römische, meist monumentale Architektur wurde durch diesen Stein erst möglich. Von Luni aus wurde der Marmor zum römischen Hafen Ostia verschifft und damit gewann die Stadt eine große wirtschaftliche Bedeutung. Nach der Verlandung des Hafens musste der Ort aufgegeben werden. Heute liegt das Meer gut zwei Kilometer entfernt. Nur die Überreste des ehemaligen Amphittheaters und eines Tempels sowie kleinere Grundmauern erinnern heute noch an vergangene Größe. (Das war mal wieder ein Beitrag zur Förderung der Allgemeinbildung.)

   Kurz vor den ersten Häusern von Carrara sehe ich sie dann auch: Was auf den ersten Blick aussieht wie Schnee auf den Bergen, sind die ungeheuer großen Marmor-Steinbrüche. Ganze Bergflanken sind bis in die Spitzen hinein abgetragen und leuchten weiß in der mittlerweile wieder vom blauen Himmel scheinenden Sonne. Den Rohmarmor verarbeitende Werke säumen nun für einige Zeit meinen Weg und überall blinkt mir Marmor entgegen: Mauern, Brunnen, Sitzbänke, ganze Bürgersteige u.a. Wenn nicht hier, wo auch sonst!

   Am Platz bei dem dicken Burgturm Torre de Castruccio in Avenza mache ich Pause. Die kleine Kirche am Platz, San Pietro, gehörte bis zum 12. Jahrhundert zum Gemeindegebiet von Luni. Heute quirlt um die Kirche herum der Verkehr, in Luni wächst das Gras auf den Ruinen. Das ehemals nahegelegene Ospitale San Antonio, das die durchziehenden Pilger aufnahm, wurde im 18. Jahrhundert geschlossen, seit kurzer Zeit gibt es wieder eine neue Pilgerherberge im Ort. So kann's gehen!

   Maria ist nirgends zu sehen. Eigentlich wäre dieser Platz doch eine gute Stelle, um sich zu treffen. Hat sie es sich anders überlegt, ist nach ihrer Wegebeschreibung gegangen und auf dem Weg nach Massa und nicht nach Mare di Massa? Ist sie vor mir oder noch hinter mir? Habe ich sie durch meinen anfänglichen Straßenmarsch überholt, genauso wie Roberto? Ich warte meine Pausenlänge ab, dann ziehe ich weiter.

   Die letzten sechs Kilometer sind keine Offenbarung. An Campingplätzen, kleinen Marmorwerken, herrschaftlichen Villen und Ferienhäusern vorbei nähere ich mich Mare di Massa, sehe die ersten Möwen fliegen und - ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde - ich meine, es riecht nach Meer. Dann sehe ich meine Unterkunft vor mir, das "Ostello internazionale Turimar", ein gewaltiger Bau. Und dahinter - das Meer!

   Ich gehe so weit wie möglich an es heran, sehe aber auf der anderen Seite der entlangziehenden Straße nur dicke Marmor- und Felsblöcke, gegen die die Brandung anrollt. Wo ist der Strand? Ok, wahrscheinlich ist Ebbe. Jedenfalls tummeln sich auf den Marmorblöcken die Menschen, sonnen sich, hüpfen auf ihnen herum. Ich bin tatsächlich am Mittelmeer, wieder ist ein Zwischenziel geschafft!

   Das Turimar ist nichts anderes als ein Bienenstock voller Jugendlicher. Deutsche Stimmen schallen mir entgegen und auf den Stühlen am Swimmingpool lümmeln sich übernächtigte Pubertierende. Typischer Fall von Abschlussfahrt Klasse 10. Im Meer oder im Swimmingpool ist keine(r) von ihnen, alle sind sie wohl gerade erst aus dem Tiefschlaf erwacht, bereiten sich aber ab sofort schon mal wieder auf den Partyabend vor. Wie mir der nette Herr an der Rezeption mitteilt, sind von den zur Zeit anwesenden sieben Schulklassen vier aus Deutschland.

   Mitten in meiner Entspannungsphase klopft es bei mir an der Tür. Eine Dame des Hauses steht davor und bittet mich nach unten ans Telefon, eine "Maria" möchte mich sprechen. Aha, Maria aus Südtirol! Wie sich herausstellt, hat sie in der Tat in Avenza auf mich gewartet, ganz in der Nähe von dem Platz, wo ich auf sie gewartet habe. Sogar auch noch zu exakt derselben Zeit. Es hat halt nicht sollen sein, sie hat auch so ans Meer gefunden. Jedenfalls hat sie vier Kilometer vor Mare di Massa ein Quartier gefunden und will mich morgen früh beim Turimar abholen und mit mir zusammen nach Pietrasanta gehen. Ich weiß zwar nicht, wovor sie sich bei einem schnurgeraden Weg auf einer Küstenpromenade entlang Sorgen macht, aber vielleicht braucht sie einfach mal etwas Gesellschaft. Wir vereinbaren 8.30 Uhr als Abmarschzeit vom Turimar und wünschen uns noch gegenseitig einen schönen Tag.

   Als ich abends draußen vor einer Pizzeria in der Nähe des Strandes sitze, kommen alle Schulklassen nacheinander an mir vorbeigezogen. Aufgebrezelt, eine fürchterliche Deofahne hinter sich herziehend, machen sie sich alle auf den Weg zur nächstgelegenen Disco. Nur den dazugehörigen Pädagogen habe ich nicht gesehen.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmYmNkVjhvc01EVzA/

 

 

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Kathrin (Freitag, 06 Juni 2014 06:30)

    Hallo Reinhard, Gratulation! Jetzt ist nicht mehr weit bis Rom! ;)
    Ich kenne dieses "da ist das Meer-Gefühl ", denn meine zweite Heimat ist Ligurien.
    Ach übrigiges, die dazugehörigen Pädagogen kann man heute kaum noch erkennen. Die sehen meist genau so jung und dynamisch aus, wie ihre Schüler.
    Bei mir geht's auch gleich los. Heute an Perl und dann mal sehen. Liebe Grüße aus der Eifel

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 06 Juni 2014 09:33)

    Vatter, ich sag nur: Hochachtung!!!
    Und warum deine Zimmergenossen alle schon so früh weg waren? Wenn du mich fragst, hat das etwas mit der Geräuschkulisse, während du schläfst, zu tun

  • #3

    Sebastian (Freitag, 06 Juni 2014 18:26)

    Zu Fuß zum Atlantik, zu Fuß zum Mittelmeer... nächstes Jahr zu Fuß zum Pazifik?

  • #4

    Tobi Werner (Freitag, 06 Juni 2014 20:31)

    Reinhard - RESPEKT!!!
    An diesem historischen 06.06.(1944) sahen auch viele Menschen einen Strand...
    Utah und Omaha Beach zum Beispiel...
    In Gedenken an unsere Befreier, die solche Opfer erbracht haben und in Gedenken an die gefallenen deutschen Soldaten macht dieser Tag, an dem Du das Mittelmeer erreichst sehr nachdenklich...
    Auf Deinem weiteren Weg wünschen wir dir noch ganz viele tolle Eindrücke, gute Erlebnisse und Spass!!!

    HuMaTo

  • #5

    7.6.14 (Samstag, 07 Juni 2014 11:25)

    Hallo Reinhard,
    Deine Beschreibung der Gegend läßt uns wünschen das auch mal zu sehen. Zeigst Du Fotos zu , wenn Du zurück bist?
    Wir wünschen Dir "Frohe Pfingsten" , damit Du nicht aus der Zeit "fällst".
    Alles Gute fürdie restliche Strecke von
    Willi und Maria


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