Via Jacobi

Bern/Gümligen - Rüeggisberg (21 km)

   Ich bin der Erste am Frühstücksbuffet. Ab 7.00 Uhr soll es dort losgehen, ich bin um 7.02 Uhr da. Schlafen kann ich sowieso nicht mehr. Neben mir im Zimmer liegen zwei weibliche Schnabbeltüten um die Dreißig, die gestern vorm Einschlafen und heute beim Aufwachen wie Teenies auf Klassenfahrt lautstark rumgibbelten. Sei es ihnen gegönnt, wer weiß, was sie zu feiern haben.

   Die nette Nicht-Schweizerin hinter der Buffettheke scheint eine anstrengende Nacht hinter sich zu haben, sie sieht etwas zerschlagen aus. Als ich sie darauf aufmerksam mache, dass der Kaffeeautomat noch nicht eingeschaltet ist und auf der Theke die Butter noch fehlt, läuft sie rot an und holt das Versäumte nach. Um ihr etwas über die von ihr wohl so empfundene Peinlichkeit hinwegzuhelfen, verwickel ich sie in einen munteren Morgen-Smalltalk, was zur Folge hat, dass sie ein Tablett mit Käse fallen lässt. Das veranlasst mich dann doch, mich still an einen Tisch zu setzen und mit meinem Frühstück zu beginnen. Helfen beim Aufsammeln des Käses geht ja nicht, denn hinter der Theke ist Hygienezone.

   Mein Weg von der Jugendherberge in die Oberstadt gestaltet sich mühelos. War ich gestern Nachmittag schon etwas besorgt, dass ich morgens nach dem Frühstück direkt wieder Serpentinen hochsteigen müsste, so fällt mir nach Verlassen der Jugendherberge ein kleines Schild mit dem Symbol einer Zahnradbahn auf. Drei Minuten später stehe ich an ihrer Talstation, ziehe an einem Automaten ein Ticket, besteige als einziger die kleine Bahnkabine und eine Minute später bin ich oben, direkt neben dem großen Parlamentsgebäude.

   Den Weg zum Bahnhof kenne ich noch von gestern. Doch heute ist Bern ganz anders. Nicht mehr von der Sonne beschienen, sondern grau und verregnet, nicht mehr fröhlich und voll Leben, sondern fast menschenleer und trist. Am Bahnhof suche ich nach der Haltestelle für die Tram nach Gümligen, wo ich meinen Weg wieder aufnehmen möchte und als ich mich danach umsehe, stelle ich fest, dass ich just im Moment schon an der richtigen Haltestelle stehe. Die Fahrscheinautomaten sind hier anscheinend etwas einfacher zu bedienen als in Deutschland und das ist auch gut so, denn hundert Meter weiter sehe ich schon die grüne Tram der Linie 6 ankommen. Alles geht glatt und schneller als ich noch vor einer Stunde in der Jugendherberge gedacht habe, bin ich in Gümligen.

   Nach fünfminütigem Fußweg bin ich auch wieder auf der Via Jacobi, einem der Wege der Jakobspilger in der Schweiz. Genau wie Deutschland das Durchzugsland der Pilger aus dem Baltikum und aus den nordischen Ländern war und jetzt auch wieder ist, wurde und wird die Schweiz von Pilgern aus Osteuropa und Österreich durchzogen. Ganz abgesehen davon, dass Deutsche und Schweizer selbst in den Statistiken des Pilgerbüros von Santiago de Compostela einen hohen Rang einnehmen. In der Schweiz gibt es unterschiedliche Ausgangspunkte, z.B. Konstanz, Luzern, Brunnen oder Einsiedeln. Von dort kommend vereinigen sich diese Wege, ziehen u.a. an Burgdorf und Bern vorbei, laufen z.B. über Rüeggisberg, meinem heutigen Ziel, weiter über Fribourg, Lausanne und Genf nach Frankreich hinein und dann über die Pyrenäen zum großen Ziel Santiago de Compostela. In den letzten Jahren entwickelte sich Lausanne zu einer Art Pilgerdrehscheibe. Von hier aus zieht die große Mehrheit der Pilger nach Westen zum Grab des hl. Jakobus nach Spanien, eine (noch) kleine Minderheit nach Süden zu den Gräbern der Heiligen Petrus und Paulus nach Rom. Einer von dieser Minderheit bin ich.

   In der letzten Nacht muss es schwer geregnet haben, denn die Wege der Via Jacobi sind heute schwammnass. Das Wasser der Aare, die ich schon bald hinter Gümligen auf einer großen, überdachten Holzbrücke überquere, ist dunkelbraun und kurz davor, die Uferlinie zu übersteigen. Wenn der Regen in den nächsten Tagen weiterhin so ergiebig ist, wie in den letzten 12 Stunden - und der Wetterbericht scheint dies zu bestätigen - könnte man hier auf der Via Jacobi vielleicht bald nasse Füße bekommen. Dies Problem scheint hier aber nicht neu zu sein. Zum einen baut man deshalb gerade wieder an einem höheren Aare-Damm, zum anderen liegt nach Überqueren der Aare eine weite Schwemmlandebene vor mir, die in den vergangenen Jahrhunderten schon viele Überflutungen erlebt haben dürfte. Mitten darin liegt heute der Flughafen Bern-Belp und gerade in dem Moment, als ich die Einflugschneise kreuze, landet über mich hinweg eine zweimotorige Propellermaschine.

   Dann aber geht es erneut in die Schweizer Bergwelt. Knapp 450 Höhenmeter muss ich wieder hoch in die Hügellandschaft des Fribourger Mittellandes. Knapp an die 1.000 m ü. NN erreicht sie bei Rüeggisberg, fällt dann jedoch bis zum Genfer See immer weiter ab. Der Regen ist mir heute ein treuer Begleiter und mein Schirm bleibt tatsächlich bis kurz vor der Unterkunftstür aufgespannt. Die Folge: Von den Bergen des Berner Oberlandes, die ich von den heute erklommenen Höhen laut Wanderführer eigentlich erblicken und genießen soll, sehe ich zunächstmal nichts. Erst als ich Rüeggisberg schon vor mir sehe, steigen die tiefhängenden Wolken etwas auf und geben einen Teil der alpinen Bergwelt frei - und die ist schneebedeckt. Wie war nochmal die Wettermeldung am Morgen bei Familie Mathys in Bättwil? “Die Schneefallgrenze sinkt auf 1.200 bis 1.300 m“. Man sieht's! Und der St. Bernhard-Pass ist doppelt so hoch... Mir wird ganz anders, aber nicht besser.

   Bereits um 14 Uhr stehe ich vor dem Haus vom Ehepaar Schürch, das, speziell auch an Jakobspilger, Zimmer vermietet. So früh haben die Schürchs wohl noch nicht mit mir gerechnet, denn sie sind nicht zu Hause. Schön ist das nicht, denn vom Regen und vom Schweiß der erstiegenen Höhenmeter sind meine Sachen doch etwas klamm. Ich muss also in Bewegung bleiben. Glücklicherweise habe ich vorhin bei der Kirche einen Hinweis zur “Klosterruine“ gesehen, da kann ich ja mal vorbeischauen. Ich parke meinen Wheelie bei der Garage und zockel los.

   Die Klosterruine Rüeggisberg stellt sich als Überbleibsel eines ehemals recht eindrucksvollen Bauwerks des Clunizianerordens heraus, dessen geistiges Zentrum die im Mittelalter übermächtige Abtei von Cluny in Burgund war. Gerade auch die Pilgerbewegung zum Grab des Jakobus in Spanien wurde von Cluny unterstützt und gefördert und dieses Kloster hier in Rüeggisberg war bei den Pilgern, die hier durchzogen, eine beliebte Anlaufstelle als Pilgerherberge. In einem kleinen Gebäude auf dem ehemaligen Klostergelände ist ein Museum untergebracht, das neben der Geschichte des Klosters und der erfolgten archäologischen Arbeiten an dieser Stelle in den letzten 70 Jahren auch einiges über die Jakobspilgerbewegung von früher und heute erzählt. Für jemanden wie mich, dessen Jakobspilgerweg gerade ein Jahr vorbei ist, eine nette Auffrischung.

   Eine Stunde später bin ich wieder vor dem Haus der Schürchs. Nach meinem Klingeln kommt jemand drinnen im Affenzahn eine Treppe runtergerannt. Die Tür wird aufgerissen und Frau Schürch fällt mir bald um den Hals. “Wir müssen uns um ein paar Minuten verpasst haben. Als der Regen aufhörte, wollte ich mit meinem Mann nur noch schnell einen kleinen Spaziergang machen. Schließlich ist heute Sonntag. Bitte entschuldigen Sie!“ Ich berichte ihr schnell von meinem Besuch in der Klosterruine und dem Besuch des kleinen Museums und damit ist sie dann auch beruhigt.

   Frühes Ankommen bedeutet meist auch, Zeit für ein kleines Entspannungsnickerchen. Außerdem: Regenwetter im April auf einer Meereshöhe von knapp 1.000 m bedeutet oft unangenehme Temperaturen. Wenn man sich dann in einer winddurchzogenen Ruine und einem ungeheizten Museum aufhält, kriecht einem so langsam die Kälte durch die Klamotten. Und wo kann man sich besser aufwärmen als im Bett!?

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmUHdHcTBpR3lwc2c/

 

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 27 April 2014 23:01)

    Nicht dass du dich ab jetzt aus Gewohnheit an den Jakobsmuscheln orientierst...

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 28 April 2014 13:22)

    Haha! Und zack! - steht er auf einmal wieder tatsächlich in Cluny! Aber keine Sorge, wenn du auf einmal dann doch im Schneegestöber stehst. Bestimmt tut sich dann auch wieder unmittelbar vor dir eine Bergbahn, ein Bus, ein Zug, ein Taxi, ein Pickup, ein freundlicher Pilgerhelfer, ein Skiläufer mit ein paar Extra-Skiern, ein Sherpa mit Lasten-Lama, ein Huskyschlitten oder irgendwas vergleichbares auf, was dir aus deiner misslichen Lage hilft und dich kutschiert. Hat ja bisher auch immer funktioniert... ;-)

  • #3

    Der Kronprinz (Montag, 28 April 2014 21:24)

    Tja, selbst bei einem Wagner im fortgeschrittenen Alter fällt den Frauen noch das käseblech aus der Hand...

  • #4

    Treuer Leser (Mittwoch, 30 April 2014 21:49)

    "...In der Schweiz gibt es unterschiedliche Ausgangspunkte, z.B. Konstanz..."
    Wie jetzt, sind unsere Bodenseebewohner jetzt auch schon Separatisten???


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