Wieder ein Überraschungsbesuch!

Gochsheim - Bretten (10 km)

   Der frühmorgendliche Blick aus dem Fenster stellt mich zufrieden. Womit ich gestern Abend noch nicht gerechnet habe, ist dennoch eingetroffen: Die Sonne erhebt sich gerade über einem Kraichgau-Hügel und keine Wolke wird sie in absehbarer Zeit stören. Der Sommer im Frühling ist zurück.

   Von den Zimmern aus führt der Weg in die Gaststube durch einen kleinen Saal, dessen Tische festlich eingedeckt sind. Eine größere Gesellschaft scheint zum Mittagessen zu kommen. An den Tischen in der Gaststube sitzen bereits einige Übernachtungsgäste und frühstücken. Aus den Gesprächen entnehme ich, dass sie gleich zum Konfirmationsgottesdienst in die Kirche gehen werden. Das Enkelkind bzw. der Neffe hat Konfirmation. Gefeiert wird anschließend im kleinen Saal. Jetzt verstehe ich auch die Tischdeko. Jeden Meter stehen auf den Tischen Bilderrahmen mit Fotos eines Kindes bzw. Jugendlichen, im Kinderwagen, auf Inlinern, mit den Eltern, mit der kleinen Schwester, auf dem Fahrrad... Stationen der ersten 14 Lebensjahre eines Jungen, der heute seinen großen Tag hat. Auch mal eine nette Dekoidee.

   In der Küche fliegen schon die Finger, ich kann es bis zu meinem Frühstückstisch hören. Töpfe und Teller klappern, irgendetwas wird gehackt, vielleicht Zwiebeln. Der Koch gibt Anweisungen, immer garniert mit einem kleinen Witz. Seine Helferinnen quietschen vor Vergnügen. Das Betriebsklima scheint zu stimmen. Auf meine Frage hin erfahre ich von der Wirtin, die mir den Kaffee bringt, dass sie heute 90 Personen zum Mittagessen und Kaffeetrinken erwarten. 60 im Saal und 30 hier in der Gaststube. “In der Küche helfen dem Koch zwei Anrichterinnen und eine Spülfrau und die Bedienung machen meine Tochter und ich. Das geht, da greift ein Rädchen ins andere, da haben wir Routine.“ Dafür, dass es hier gleich richtig abgeht, hat sie die Ruhe weg und plaudert locker mit mir. Das nenne ich “Gast-freundlichkeit“ im wahrsten Sinne des Wortes.

   Heute ist für mich so etwas wie ein Ruhetag, zehn Kilometer sind es gerade mal bis Bretten. Solche Kurzetappen sind immer wieder in meinen Etappenplan eingestreut. Ich komme zwar etwas voran, habe aber auch genug Zeit, um mich zu erholen. Es ist schon weit nach 9 Uhr, als ich mich wieder vor mein Wheelie spanne und einen Schritt vor den anderen setze.          

   Ich bin noch keine zehn Minuten unterwegs, als im Ort die Glocken beginnen zu läuten. Den Konfirmanden hüpfen jetzt die Herzen bis zum Hals und Mama oder Oma werden bald eine kleine Träne vergießen (Ok, Papa vielleicht auch). Unwillkürlich gehen meine Gedanken zurück zu den sechs Konfirmationen meiner eigenen Nachkömmlinge und ohne Emotionen ging das nie ab. Ich wünsche denen dort in der Kirche allen einen schönen Tag, das Wetter spielt ja schon mal hervorragend mit. Es dauert einige Zeit bis die Glocken verhallen.

   Mittlerweile bin ich aus Gochsheim raus und Stille ist wieder um mich herum. Den E1 gehe ich heute nicht bis nach Bretten. In der Karte ist er von hier aus nicht ausgezeichnet. Ich finde ihn als rote Linie von Bruchsal her kommend, die alte Streckenführung. Inzwischen ist er aber verlegt. Noch in Gochsheim sah ich gestern zwar das Zeichen an einer Straßenlampe, verfolge es aber heute nicht, da ich nicht weiß, welche Umwege es mich möglicherweise führt. Ich mach mir mal wieder meinen eigenen Weg.

   Über etwa hundert Meter muss ich meinen Wheelie zu einem kleinen Slalom zwingen. Etliche Weinbergschnecken gleiten über den Weg, als wären sie heute Morgen unterwegs zu einem gemeinsamen Ziel. Ich muss nicht nur aufpassen, wo ich meine Füße hinsetze, sondern auch die Fahrspur meiner beiden Räder berücksichtigen. Aber ich glaube, alle Häuschenträger haben das Zusammentreffen mit mir schadlos überstanden.

   Waren es in den letzten Tagen nur Streifen von Raps, die mich mit ihrem Neon-Gelb begeistert haben, so sind es heute weite Felder, die mit mir über die Hügel ziehen und wogen wie ein gelbes Meer. Der Geruch ist irgendwie schwer und ich kann mich nicht erinnern, diesen Geruch schon mal so deutlich wahrgenommen zu haben. Gegen die grünen Waldränder oder direkt gegen den blauen Himmel hebt sich dieses Gelb fantastisch ab und ich könnte fotografieren auf Teufel komm raus.

   Als deutliche Geländemarke taucht jetzt eine langgezogene neue Betonbrücke vor mir auf. Sekunden später jagt ein ICE über sie hinweg. Meine Karte sagt mir, dass er aus dem Rheintal kommen muss und wohl auf seinem Weg nach München ist. Hat mich jemand in diesem Zug wahrgenommen? Wohl kaum. Nehmen die Menschen in diesem dahinrasenden Zug überhaupt wahr, wie schön hier der Kraichgau ist? Schauen die Menschen überhaupt aus dem Fenster oder sind es hauptsächlich Geschäftsreisende, die ihre Zeitung lesen, am Laptop arbeiten, mit dem Handy wichtige Termine vereinbaren oder nur schlafen? Ich möchte mit ihnen jetzt nicht tauschen.

   Nach einer Stunde erreiche ich Bauerbach. Am Ortseingang steht ein großes Schild. “Obst- und Gartenbauverein lädt ein zum Frühlingsfest!“ - Datum von heute. Die Kirchenglocken läuten und kurz darauf sehe ich Kirchgänger auf der Straße. Aber nicht alle! Viele stehen noch oberhalb der langen Kirchtreppe vor dem Portal und halten ein Schwätzchen, unter ihnen viele höchst feierlich gekleidete Jugendliche. Aha, hier ist auch Konfirmation. Frühlingsfest und Konfirmation an einem Tag? Ich würde sagen, schlecht terminiert.

   Als ich die Hauptstraße entlangzockel, nehme ich mindestens an jedem zweiten Haus köstliche Gerüche wahr. Kiloweise Schwein und Rind bruzzeln in den Töpfen, Zwiebeln schmoren dazu. Am liebsten würde ich mal gerne anklingeln und meine Abschmeckerqualitäten anbieten. Abgelenkt werde ich glücklicherweise durch die kleine Grundschule, mit den bunten Bildern in den Fenstern und den Hinkekästchen und Spielgeräten auf dem Schulhof. Heute liegt sie ruhig da, morgen ist vielleicht zu dieser Zeit gerade Pause. Der Lehrerparkplatz ist auch leer. Kinder und Lehrer freuen sich wahrscheinlich jetzt schon auf die Osterferien, die bald beginnen.

   Am Ortsende von Bauerbach, dort, wo gleich wieder der Weg durch die Rapsfelder weitergeht, stutze ich. Vor mir hängt an einer rosafarbenen Hauswand ein großes Bild mit dem Portrait eines ... Entschuldigung!... Rasseweibs! Verführerisch blickt sie mit stark geschminkten Augen, üppig wallendem blonden Haar und einem Zeigefinger auf einem ihrer Vorderzähne abgelegt... GENAU MICH an. Jetzt bin ich aber sprachlos. “Sowas hier in Bauerbach...?“. Als ich nahe genug dran bin und “Haarstudio“ lese, bin ich wieder beruhigt.

   Der Alte Brettener Weg bringt mich nun dem schönen Städtchen Bretten immer näher. Plötzlich höre ich aufgeregtes Geschrei über mir. Vier Bussarde flattern und segeln umeinander herum, stürzen manchmal aufeinander zu. Wird hier gerade um ein Weibchen gebuhlt oder das Revier gegen Eindringlinge verteidigt? Eine ganze Weile schaue ich mir das Spiel bereits an, als auf einmal, nicht weit von mir, ein fünfter Bussard aus einem Baum aufsteigt, mitten zwischen die Raufbolde schießt, mal hinter dem einen, mal hinter dem anderen herjagt und innerhalb von Sekunden wieder für Ruhe und Ordnung sorgt. Die Störenfriede sind weg und der Chef fliegt auf seinen Baum zurück. So geht das!

   Ich bin bereits zwei Kilometer vor Bretten, also ich doch nochmal eine kurze Rast einlege. Was soll ich schon so früh in Bretten? Und möglicherweise kann ich mein Zimmer noch gar nicht beziehen. Die Sonne scheint angenehm warm, der Blick geht über eine blühende Streuobstwiese und ein Rapsfeld, ich setze mich auf eine bequeme Bank und gönne meinen Füßen frische Luft. Hinter mir höre ich auf einem abzweigenden Weg aufgeregte Stimmen. “Karli, Karli, wo bischt denn? - Kaaarli!!!“ Zwei Frauen blicken ratlos in der Gegend herum. Wird ein Ehemann gesucht? “Kaaaaaaarli!!!“ Plötzlich kommt ein Wesen, das wohl irgendwann noch ein Hund werden will, aus dem Rapsfeld gezischt und hüpft einer der Frauen in die Arme. “Jo, wo worscht denn du, du Säckl?“ Na, im Rapsfeld, drängt es mich zu rufen, aber ich verkneife es mir. Wahrscheinlich hat sich der kleine Kerl darin verirrt und nur mit Mühe wieder herausgefunden. Erleichtert klemmt sich Frauchen Karli unter den Arm und strebt mit ihm und Freundin Bretten entgegen.

   Eine Viertelstunde später tue ich es ihnen nach und stehe eine halbe Stunde später auf dem schmucken Marktplatz von Bretten. Mittelalterliche Fachwerkhäuser wie aus dem Bilderbuch, ein großer Brunnen, Kopfsteinpflaster. Viele Menschen sitzen an den kleinen Tischen der Außengastronomien, lassen sich die Sonne aufs Haupt scheinen, haben ein deftiges Mahl vor sich stehen oder nur ein Bier oder eine Tasse Kaffee. Das Melanchthonhaus ist eingerüstet und verbirgt seine Pracht hinter einer Plane. Dafür erklingen genau jetzt (weil 12 Uhr!) die Glocken der nach dem großen Reformator und Sohn der Stadt benannten Kirche. Aber nicht nur die Kirche trägt in Bretten seinen Namen, sondern mindestens auch noch ein Cafe, eine Apotheke und die Straße, auf der ich nun meiner Unterkunft, dem “Gasthof zum Hirsch“, zustrebe.

   Meine Befürchtung, dass ich vielleicht so früh noch nicht auf mein Zimmer kann, ist unbegründet. Ich kann! In der Gaststube ist die Hölle los. Halb Bretten scheint hier sein Mittagessen einzunehmen. Oder ist das auch eine Konfirmationsgesellschaft? Mein Zimmer ist einfach, aber gemütlich, und das reicht mir immer. Ich habe mich gerade eingerichtet, da klopft es an der Tür. Da mir der Wirt versprochen hatte, mir, wie von mir erbeten, “gleich“ den WLAN-Code zu geben, rechne ich mit ihm. Ich öffne die Tür und vor mir steht ein Ehepaar, das mir irgendwie bekannt vorkommt und sich als Kerstin und Hans-Jürgen vorstellt. Als sie zur näheren Erklärung noch hinzufügen, dass sie Pilger auf der Via Francigena sind und meinen Blog verfolgen, fällt bei mir der Groschen. Vor einigen Tagen schon hatten die beiden mir aufs Gästebuch eine Nachricht geschickt und mir dabei ihren eigenen Blog mit Übernachtungsmöglichkeiten in der Schweiz und in Italien empfohlen. Sie gehen den alten Pilgerweg in Etappen und werden im Herbst, so Gott will, Rom erreichen. Da sie meinen Blog verfolgen und nicht allzu weit von hier wohnen, haben sie sich heute mit dem Auto auf den Weg gemacht und in Bretten abgestellt, um mir auf dem E1 entgegenzugehen. Ich bin platt! Leider habe ich ja heute (wieder mal) nicht den E1 benutzt und so sind wir in einiger Entfernung aneinander vorbeigelaufen. Jetzt zahlte sich aus, dass ich im Blog unter “Unterkünfte“ meine Übernachtungsbetriebe aufgelistet habe, und mit detektivischem Spürsinn machten Kerstin und Hans-Jürgen mich trotzdem ausfindig.

   Wir verabreden uns und wenige Minuten später sitzen wir im kleinen Biergarten vom “Hirsch“ im Hof. Jetzt sitzen Insider zusammen und da gibt es einiges zu erzählen. Sie berichten von ihren Etappen auf der Via Francigena, die sie vor einigen Jahren in Canterbury begonnen haben, ich erzähle von meinem Weg in den letzten zwei Wochen und von den viereinhalb Monaten auf dem Jakobsweg. Sie geben mir Tipps zu Übernachtungsmöglichkeiten in der Schweiz und in Italien und versprechen mir, ihre Unterkunftsliste zuzusenden. Sie nehmen mir die Sorgen um einen eventuellen schweren Aufstieg zum St. Bernhard-Pass und stellen eine wahrscheinliche Mückenplage in der Poebene in Aussicht, und, und, und...

   Bevor wir uns voneinander verabschieden, möchte Hans-Jürgen noch einen Blick auf mein Wheelie werfen. Wir gehen nochmal hoch auf mein Zimmer und ich zeige ihnen mein gutes Stück. Da Hans-Jürgen aber (noch) “wie verwachsen“ mit seinem Rucksack ist, lohnt sich im Moment die Investition nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

   Zum Abschied überreicht mir Kerstin ein kleines “Survival-Paket“. Bananen, ein Apfel, Fußsalbe, Traubenzucker, Gummibärchen und - der Knaller! - der Wimpel der Via Francigena, das Erkennungssymbol der Pilger auf diesem Weg, zu vergleichen mit der Jakobsmuschel der Jabobspilger. Ich bin begeistert und danke den beiden herzlich. Wir vereinbaren, in Kontakt zu bleiben und wünschen uns gegenseitig, dass wir heil und gesund in Rom ankommen.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmX0VncUJUU2VJZTQ/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Mittwoch, 09 April 2014 09:25)

    Poh, da reisen dir die Fans schon hinterher...


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