Wolkenmeer

Radicofani - Aquapendente (25 km)

   Ich erlebte es nochmal: das Ritual der Fußwaschung. Die Herberge von Radicofani wird von der gleichen Gemeinschaft ehrenamtlich geführt, wie die in Abbadia Isola, wo dieses Ritual ja ebenfalls praktiziert wurde. Diesmal war der Kreis meiner Mitpilger ein ganz anderer und ich sah sehr deutlich, dass es jeden von ihnen genauso berührte wie mich vor wenigen Tagen. Beim gemeinsamen Abendessen saßen sechs Nationalitäten am großen Tisch (Deutschland, Italien, Holland, Belgien, Spanien, Portugal), ließen sich von der kleinen Hospitalera bedienen, aßen, tranken, lachten, sprachen kreuz und quer in allen Sprachen, verstanden sich. Es sind auch diese Momente, die eine Pilgerreise so wertvoll machen.

   Nach dem Essen gingen Bert und ich in die Bar auf der anderen Seite des kleinen Platzes, an dem auch die Kirche und die Herberge liegen. Die Alten und die Jungen des Ortes saßen auf den Bänken und den Treppenstufen vor der Kirche und an den kleinen Bistrotischen vor der Bar, quatschten und tratschten, lachten, rauchten und tranken, Kleinkinder und Katzen liefen mal zu dem oder zu der - ein Bild der offensichtlichen Harmonie.

   Für das WM-Spiel Deutschland : Ghana interessierte sich anscheinend keiner. Berts Zigaretten- und Bierkonsum während der eineinhalbstündigen Übertragung war beträchtlich und ich konnte auch nicht sagen, dass mich das Spiel kalt ließ. Mit dem Unentschieden konnten wir beide dann halbwegs leben. Das heißt, bis heute Morgen wussten wir gar nicht, ob das tatsächlich das Endergebnis war, denn zwei Minuten vor Ablauf der Nachspielzeit holte uns ein Hospitalero höchstpersönlich aus der Bar raus, da er beabsichtigte, die Herberge jetzt abzuschließen. Kein gutes Timing!

   Die Toskana verabschiedet sich von mir mit einem Naturschauspiel der Spitzenklasse. Als ich in aller Frühe aus den engen Gassen von Radicofani herauskomme und mich an den Abstieg ins Tal machen will, bleibt mir der Mund offenstehen. Tief unter mir liegt eine weiße Wolkendecke und deckt alles zu. Nein, nicht alles! Die höchsten Erhebungen ringsum und einige der höchsten Hügel mittendrin schauen daraus hervor und werden von der Morgensonne beschienen, die von einem tiefblauen Himmel strahlt. Ich bin fasziniert und einige Male wieder nicht in der Lage, einfach so weiterzugehen. Immer wieder bleibe ich stehen, schaue auf dieses Bild und bin dankbar, so etwas Schönes erleben zu dürfen.

   Auf einer "weißen Straße" gehe ich nun lange Zeit bergab und kann es kaum erwarten, langsam in diese weißen Wolken "einzutauchen". Ich weiß ja dann, was darüber ist, nämlich ein Himmel, wie er blauer kaum sein kann. Ich werde miterleben, wie die Sonne sich immer mehr mit ihrer Kraft durchsetzen wird, die Wolken aufreißen und die Sonnenstrahlen mal auf den Flecken Erde fallen und mal auf einen anderen, bis irgendwann kein Wölkchen mehr am Himmel zu sehen ist.

   Es wird wirklich ein "Eintauchen". Langsam und sanft wehen mir die ersten Nebelfetzen entgegen, rechts im Tal sehe ich, wie sie den Hügel emporklettern und bedächtig, aber konsequent alles zudecken. Die Luft wird feuchter, schwerer und kühler, aber nicht unangenehm. Auf den Gräsern und den Blättern der Büsche entdecke ich unvermittelt Millionen von kleinsten Wassertropfen und nur Minuten später haben sich viele von ihnen auch auf meinen Arm- und Barthaaren niedergelassen. Doch nirgends verteilen sie sich wieder so kunstvoll, wie auf den vielen, vielen, Spinnennetzen, die sie trotz ihres Gewichtes aber nicht zum Zerreißen bringen.

   Als ich nach mehr als zwei Stunden auf der alten Cassia, bei der immer noch streckenweise der alte Steinbelag zu Tage tritt, unten im Tal angekommen bin, hat es die Sonne bereits geschafft. Alle Wolken hat sie förmlich aufgesogen und sie strahlt nun ungehindert vom Himmel. Bei den wenigen Häusern von Ponte a Rigo habe ich die letzte Ortschaft der Toskana erreicht und mit ihr auch wieder die neue Cassia, die Staatsstraße, die Rom mit Florenz verbindet. Jetzt geht es auf ihr wieder weiter, kilometerlang. Der Verkehr ist, genau wie gestern, widererwartend gering, die Temperaturen sind erträglich und ohne nennenswerte Höhenunterschiede geht es dahin. "Roma - 146 km" lese ich unterwegs auf einem Schild. Das mag für den Autofahrer auf der Cassia stimmen, für den Pilger nicht. Auch wenn ich nicht jede Verschlingung der Via Francigena mitgehe, so werden es wohl doch noch so etwa 180 km werden. Aber immerhin, es geht mit Riesenschritten dem Ende zu.

   Nach einer halben Stunde auf der Cassia ist meine Zeit in der Toskana vorbei. Ohne Zweifel war es die schönste Teilstrecke innerhalb Italiens, wenn nicht sogar der gesamten Strecke der Via Francigena seit Lausanne, eine Art großes Finale. Jetzt komme ich in die letzte italienische Region, Latium. Sie wird die Toskana nicht toppen können, es wird eine Art von "Auslaufen in schöner Umgebung" werden. Eine Strecke also, die sich trotzdem noch lohnt.

   Nach Überschreiten des Flusses Paglia geht es das erstemal für heute nennenswert bergauf. Es sind immer die beliebtesten Etappen, wenn man nach mehr als 20 km zum Schluss nochmal richtig gefordert wird. Aber, auch wenn das jetzt etwas überheblich klingen mag, ich lache darüber. Ich fühle mich in der Form meines Lebens, kann Berge hinaufrennen bei mehr als 30ºC. Ich überhole unterwegs alle, die vor mir die Herberge verlassen haben, muss mich zu Pausen fast zwingen, es läuft und läuft und läuft. So will ich Rom erreichen und jetzt weiß ich auch, ich werde es erreichen.

   Die Herberge von Aquapendente ist noch zugeschlossen, man rechnet wohl noch nicht mit "Kundschaft". An der Tür hängt ein Zettel mit Telefonnummern. Auf meine Anrufversuche meldet sich niemand. Wiedermal zwei Stunden warten, bis die Herberge ihre Pforten öffnet? Neben der Tür steht eine Bank im Schatten der Gasse und ich setze mich etwas genervt hin. Irgendetwas sagt mir, dass ich heute nicht lange warten muss, dass gleich irgendetwas passiert. Fünf Minuten später passiert es auch: Ein Priester im schwarzen Anzug, anscheinend indischer Abstammung, kommt die Gasse entlang und bleibt etwa zehn Meter von mir entfernt vor einer Tür stehen. Ich vermute in ihm den Priester der Gemeinde, die die Herberge von Aquapendente betreibt und spreche ihn an. Er kommt lächelnd auf mich zu, hat blitzschnell meine Nationalität erkannt und spricht Deutsch mit mir. Nachdem ich ihm meinen Wunsch auf Aufnahme in die Herberge mitgeteilt habe, verspricht er mir, sich darum zu kümmern. Er wolle sowieso gerade seinen Priesterkollegen aufsuchen, dann werde er ihm mitteilen, dass ein Pilger vor der Tür stehe. Er klingelt an der großen Tür neben der Kirche San Agostino, verschwindet darin - und keine fünf Minuten später steht eine Frau neben mir, entschuldigt sich wiederholt dafür, dass ich vor einer verschlossenen Tür stand und schließt mir auf. Sie weist mich freundlich in alles ein, was ich wissen muss, verabschiedet sich dann wieder von mir und ich habe die Herberge für die nächsten zwei Stunden für mich alleine. Erst dann kommen sie wieder der Reihe nach an: Pastor Piet aus Holland, Bert aus Stuttgart, das belgische Ehepaar Rita und Jean-Paul, Javier aus Spanien. Nacheinander tun alle das, was auch mein Programm nach dem Ankommen ist: Verschnaufen, Duschen, Wäsche waschen, etwas Schlafen oder zumindest Ruhen, ein kleiner Bummel durch den Ort.

   Abends treffen wir uns alle vor einem kleinen Restaurant, wo es auf ein kleines Essen Pilgerrabatt gibt. Man muss eben Haushalten. Gegen Ende einer Pilgerreise werden die finanziellen Ressourcen knapp.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmZXJvQ1pySzJtcW8/

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Die Pilgertochter (Montag, 23 Juni 2014 15:56)

    Hach, wenn man es so liest, fühlt es sich an, als würde ich es nochmal miterleben: die Schönheit der Umgebung, das Gefühl der Gemeinschaft, die Rührung über die Hilfsbereitschaft der Ortsansässigen gegenüber, die Ungeduld und der Eifer, endlich anzukommen, das innere schlechte Gewissen, weil man eigentlich noch gar nicht ankommen WILL, die Dankbarkeit und Demut, dass man all das erleben durfte. Die traurig-melancholische Sache mit dem lachenden und dem weinenden Auge am Ende dieser Reise. Ich fühle mit dir! Aber wir freuen uns auf dich!

  • #2

    Sohnemann Julian (Montag, 23 Juni 2014 16:19)

    Hallo Papa,
    Ein bischen peinlich für mich ist es schon, wenn mein Vater mit seinem fast biblischem Alter fitter ist als ich :-)
    Auch wenn die Toskana mit all ihren schönen Seiten, sehr emotinal war, der doch emotinalste Abschnitt steht noch bevor:
    Die Ankunft. Sowohl in Rom als auch deine Ankunft Zuhause.
    Allein deshalb werden sich die Kilometer durch Latium lohnen.
    Wenn du auch, wie bei deiner letzten Wanderung, der Ankunft/ dem Ziel/ dem Ende nicht nur mit einem lachendem Auge entgegen sehen wirst, aber dazu hören wir bestimmt noch was von dir. Hoffentlich!
    Für den 180KM langen Entspurt, der für dich ja keiner ist, wenn man über 25KM pro Tag nur lachen kann, wünsche ich dir noch viel vergnügen.
    Weiter so!

  • #3

    Die Pilgertochter (Montag, 23 Juni 2014 19:10)

    Wo ist eigentlich der rasende Roland?!?

  • #4

    Der Kronprinz (Freitag, 27 Juni 2014 07:20)

    Echt krass dass du mal ebenso fast schon nach Rom schlenderst...


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